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Pfingstwunder und babylonische Sprachverwirrung - Vielfalt als Wesensmerkmal für Kirche

Pfingstwunder und babylonische Sprachverwirrung –

Vielfalt als Wesensmerkmal und Herausforderung für Kirche

 

0.    Vorbemerkung

1.    Vielfalt als Gottes Projekt für die Welt

2.    Herausforderungen  am Beispiel der Gender Justice Policy des Lutherischen Weltbundes (LWB)

3.    Fazit: Mit Vielfalt leben lernen

 

O. Vorbemerkung

Was läge näher als in einem Vortrag über Kirche mit der Geburtsstunde derselben zu beginnen. Christlichen Theolog*innen galt die Pfingstgeschichte, wie wir sie in der Apostelgeschichte des Lukas lesen können, als die biblische Geburtstagsgeschichte der Kirche. Wir wissen heute, dass dies durchaus umstritten ist, da sich die Trennung derer, die an Jesus als Messias glaubten, von der Synagoge erst im Laufe des 2. Jahrhunderts vollzog.

Im Zusammenhang mit dem Stichwort „Vielfalt“ bleiben die Pfingstgeschichte und ihre Auslegungstradition, unabhängig vom historischen Wahrheitsgehalt, sehr spannend. Daher beginne ich mit ihr und richte danach den Blick auf die berühmte Geschichte vom Turmbau zu Babel. Diese wurde fast durchgehend als Gegengeschichte zum sogenannten Pfingstwunder gelesen. In Babel verwirre Gott die Menschen, so dass sie sich nicht mehr verstehen, Pfingsten in Jerusalem bewirke er, dass alle sich verstehen.

Nach den biblischen Einblicken werde ich an einem Beispiele verdeutlichen, vor welche Herausforderungen uns die Vielfalt in der Praxis der einen Kirche stellt. Als Beispiel habe ich die Arbeit an der Gender Justice Policy des Lutherischen Weltbundes ausgewählt, an der ich beteiligt war. Am Ende steht ein Fazit: Mit Vielfalt leben lernen.

1.         Vielfalt als Gottes Projekt für die Welt

Jerusalem ist ein multikultureller Kosmos: „Unter den Jüdinnen und Juden, die in Jerusalem wohnten, gab es fromme Menschen aus jedem Volk unter dem Himmel“ (ApG 2,5). Die Menschen sind zum Wochenfest, einem jüdischen Erntefest, in Jerusalem zusammengekommen, um den 50. Tag nach Pessach gemeinsam zu feiern. Von dem griechischen Wort für der Fünfzigste, Pentekoste, hat unser Fest Pfingsten seinen Namen. Wir verbinden unseren christlichen Feiertag mit dem Wirken des Heiligen Geistes.

Fast alle Auslegungen der Erzählung in Apostelgeschichte 2,1-47 bezeichnen das Geschehen als „Sprachen-„ oder „Hörwunder“. „Da wurden sie alle [die Apostel] von heiliger Geistkraft erfüllt und begannen, in anderen Sprachen zu reden; wie die Geistkraft es ihnen eingab, redeten sie frei heraus“ (ApG 2,4), heißt es n der Übersetzung der Bibel in gerechter Sprache. „In anderen Sprachen“, auf Griechisch „heterais glossais“, ist ein zentraler Begriff im Text. Je nach Übersetzung verändert sich die Bedeutung des Textes. Glossa kann Zunge heißen oder Sprache. Je nach Übersetzung finden wir: sie redeten in „anderen Sprachen“ oder in „fremden Zungen“. Das kann so verstanden werden, dass die Jünger*innen, von Heiliger Geistkraft erfüllt; in anderen, fremden Sprachen sprechen, so dass alle in Jerusalem Anwesenden sie in ihren Muttersprachen reden hören, oder aber so, dass die Jünger*innen Jesu „in Zungen“ redeten, worunter man eine unartikulierte, von Euphorie getragene Lautsprache versteht.

Ulrich Wilkens kommentiert die Bibelstelle in seiner Übersetzung des Neuen Testaments: „Vom Geist erfasst, seien die versammelten Christen in ekstatisches Schreien ausgebrochen (vgl. 1. Kor 14), das zu gleicher Zeit in allen Sprachen der Weltvölker habe vernommen werden können“ (Wilkens, Das Neue Testament, S.397).

Luise Schottroff, die die erste Übersetzungsvariante für plausibel hält, fasst die Aussage des Textes zusammen: „Der Pfingstgeist hat die Vielsprachigkeit der messianischen Gemeinschaft und der zuhörenden Menge als Reichtum und Kraft sichtbar gemacht“ (Schottroff, Pfingsten. Von Gott in der Muttersprache reden, 2012, S.7). „Eine große Versammlung von Menschen bekennt sich zu ihrer Vielsprachigkeit und Unterschiedlichkeit“ (Schottroff, S. 8). Ein Wunder ist dies insofern, als es Mut bedurfte, in der Öffentlichkeit die eigene Muttersprache zu benutzen und sich damit gegen die Herrschaftssprachen Griechisch und Aramäisch zu stellen, die die Römer durchsetzen wollten und als Amtssprachen eingeführt hatten. Ethnische und kulturelle Vielfalt sind in dieser Geschichte durch den Geist Gottes sichtbar geworden und als positives Merkmal der Gemeinschaft bezeichnet. Bei aller Unterschiedlichkeit stiftet der Geist die eine Vision eines gemeinsamen Lebens in Frieden und Gerechtigkeit. Das ist entscheidend festzuhalten: Vielfalt wird bejaht und zugleich auf eine inhaltliche Vision bezogen. Die Hoffnung auf Frieden und Gerechtigkeit, wie sie Gott mit der Gabe der Tora realisieren will und wie sie Christus mit seinem Leben bezeugt, sind die gemeinsame Mitte, die die Vielen erst zur Gemeinschaft macht. In dieser Gemeinschaft erleben Menschen, wie sie ihre Würde und ihren Wert wiedererlangen.

Auch in der Geschichte vom Turmbau zu Babel befinden wir uns in einem multikulturellen Kontext. Ein Herrscher will einen Turm bis in den Himmel bauen. Dazu nutzt er Fronarbeiter*innen aus allen möglichen Völkern. Um seine Herrschaft zu festigen, hat er Assyrisch als Amtssprache für das gesamte Weltreich eingeführt. „Es war so, dass die ganze Erde eine einheitliche Sprechweise und übereinstimmende Worte hatte“ (Gen 11,1). Lange Zeit haben Auslegende aus diesem Satz geschlossen, dass es eine „Ur-Sprache“ gegeben habe, die alle Menschen gemeinsam gesprochen hätten. Diese Deutung ist jedoch nicht zwingend, da Gen 10 erzählt, dass es unterschiedliche Völker und Sprachen gab. Es liegt daher nahe, die „eine Sprache“ für alle als eine „hergestellte Einheitssprache“ zu sehen.

Jürgen Ebach hat (mit Hinweis auf die Forschung von Christoph Uehlinger) die Sprache der biblischen Erzählung analysiert. Die Sprache, die die Arbeiter während des Turmbaus benutzten, sei wie eine Computersprache. Sie zeichne sich durch Eindeutigkeit aus. »Wohlan! Wir wollen Lehmziegel ziegeln und im Brand brennen!« „Die technische Kommunikation soll funktionieren, und da darf es keine Nuancen geben und keinen Nebensinn“ (Ebach, S.119).

Das Projekt des Turmbaus und damit die Hybris des Herrschers wird von Gott gestoppt, indem dieser bewirkt, dass die Arbeitenden einander nicht mehr verstehen und entsprechend nicht mehr weiterbauen können. „Gott stellt die Vielfalt wieder her, indem er das Einheitsreich zerstört“ (Ebach, S. 127).

Beide Geschichten sind, so gelesen, subversiv und antiimperialistisch. Sie zeigen, dass Gottes Handeln Menschen, die unter der Gewaltherrschaft von Imperien leben müssen, ermächtigt, ihre Wurzeln nicht zu vergessen. Sie sind zugleich ein Plädoyer für den Erhalt der Vielfalt, die sich in den unterschiedlichsten Kulturen dieser Welt zeigen.

 

2. Herausforderungen

Vielfalt der Kulturen ist und bleibt ein Merkmal von Kirche bis heute. Das kann als bereichernd erlebt werden wie auch zu Spannungen führen. In den protestantischen Kirchen ist das „Modell der versöhnten Verschiedenheit“ zu einer Gemeinschaft ermöglichenden Denkfigur geworden. Orthodoxe Kirchen und auch die katholische Kirche tun sich damit schwerer, da sie einen universalen Anspruch haben. Seit Jahrzehnten bemühen sich die Kirchen um ein gemeinsames Kirchenverständnis, das mehr gelebte Gemeinschaft ermöglicht.

2013 hat die Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) – eine gewichtige Stimme in der weltweiten Ökumene, da hier, anders als im ÖRK, auch die katholische Kirche mitarbeitet –  den Text „Die Kirche: Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision“ veröffentlicht. Darin geht es darum, eine globale, multilaterale und ökumenische Vision vom Wesen, der Bestimmung und dem Auftrag der Kirche aufzuzeigen. Es wird dokumentiert, wie weit die christlichen Gemeinschaften in ihrem gemeinsamen Verständnis der Kirche gekommen sind und wie die christliche Gemeinschaft ihren Ursprung im Einsatz Gottes für die erlösende Verwandlung der Welt findet.

Damit Sie einen Eindruck davon bekommen, wie in solchen Gremien um jedes Wort gerungen wird, lese ich Ihnen den ersten Absatz des ersten Kapitels des genannten Papiers vor.

Gottes Auftrag und die Einheit der Kirche

A. Die Kirche in Gottes Heilsplan

1. Das christliche Verständnis der Kirche und ihres Auftrags wurzelt in der Vision von Gottes großem Plan (oder seiner „Ökonomie“) für die gesamte Schöpfung: dem „Reich Gottes“, das von Jesus Christus sowohl versprochen als auch in ihm offenbart wurde. Nach den Worten der Bibel wurden Mann und Frau zum Bild Gottes geschaffen (vgl. 1.Mose 1,26-27), tragen also in sich die Fähigkeit zur Gemeinschaft (griechisch: Koinonia) mit Gott und miteinander. Gottes Schöpfungsplan wurde durch die Sünde und den Ungehorsam der Menschen durchkreuzt (vgl. 1.Mose,3-4; Röm 1,18-3,20), was die Beziehung zwischen Gott, den Menschen und der geschaffenen Ordnung beschädigte. Doch Gott blieb den Menschen trotz ihrer Sünde und ihren Fehlern treu. Die dynamische Geschichte der Wiederherstellung von Koinonia durch Gott fand ihre irreversible Vollendung in der Menschwerdung und im österlichen Geheimnis Jesu Christi. Die Kirche als Leib Christi setzt kraft des Heiligen Geistes dessen lebenspendenden Einsatz in ihrem prophetischen und anteilnehmenden Wirken fort und beteiligt sich so an Gottes Werk der Heilung einer zerrissenen Welt. Gemeinschaft, deren Quelle das Leben der Heiligen Dreieinigkeit selbst ist, ist sowohl die Gabe, durch die die Kirche lebt, als auch gleichzeitig die Gabe, die die Kirche, im Auftrag Gottes und in der Hoffnung auf Versöhnung und Heilung, einer verwundeten und gespaltenen Menschheit schenken soll.

Gemeinsam unterwegs zu sein ist das Kennzeichen sowohl des ÖRK als auch des Lutherischen Weltbundes (LWB). Seit ihrem Bestehen wird in beiden Organisationen um das Verständnis der Einheit der Kirche und um den Erhalt der Kirchengemeinschaft gerungen, auch angesichts der Unterschiedlichkeit der Mitgliedskirchen.

Am Beispiel der Arbeit an der Gender Justice Policy des Lutherischen Weltbundes möchte ich Ihnen einen Einblick geben, wie unterschiedliche Kontexte die Arbeit an einem gemeinsamen Papier beeinflussen, bereichern, aber auch erschweren können.

Beispiel: Die Gender Justice Policy (GJP) des Lutherischen Weltbundes

Grundlegend für die Erarbeitung eines Papiers, das weltweit anerkannt werden soll, sind zum einen die Menschen, die direkt an der Erarbeitung beteiligt sind, und dann die Vertreter*innen der Mitgliedskirchen, die im Rat über die Annahme des Vorgelegten entscheiden. In der direkten Arbeitsgruppe war aus jedem Kontinent eine Person in der sogenannten Gender Advisory Group beteiligt: eine Theologin aus den USA, eine Frau aus Südafrika, eine aus Indien, ein Menschenrechtsanwalt aus Kolumbien und ich selbst. Die Geschäftsführung lag bei der Leiterin der Frauenarbeit des LWB, Dr. Elaine Neuenfeldt, einer brasilianischen Theologin. Hinzu kamen mehrere Personen aus dem Stab des LWB und Fulata Moyo, die Frauenbeauftragte des ÖRK. Wir alle sind Vertreter*innen einer kontextuellen, befreiungstheologisch orientierten Theologie. Das erleichtert zunächst die Arbeit – doch bleiben noch genug Unterschiede in den einzelnen Sichtweisen.

Die Arbeit an dem Grundsatzpapier, die 2011 begann, stützt sich auf viele Vorarbeiten und Beschlüsse. Zentral erscheint mir die erste Handlungsvorgabe zu sein, die lautet: „Der LWB ist eine Kirchengemeinschaft, die entschlossen ist Gendergerechtigkeit als theologische Grundlage der Verkündigung von Würde und Gerechtigkeit für alle Menschen  sowie die Gleichstellung der Geschlechter zu fördern, die ein allgemein anerkanntes Menschenrecht ist.“ (GJP, S.13)

Mit dieser Aussage wird „Gendergerechtigkeit“ zum Wesensmerkmal von Kirche und damit auch jeder Mitgliedskirche erklärt. In dieser ersten Handlungsvorgabe verbergen sich ganz viele inhaltliche Punkte, denen lange Diskussionen zu Grunde liegen.

 

„Gendergerechtigkeit als theologische Grundlage der Verkündigung“ anzusehen, ist eine Entscheidung, die Vieles nach sich zieht. Das betrifft zu allererst die biblische Hermeneutik, die Art und Weise, wie wir Texte lesen. Wie lese ich die Bibel und wie leiten sich daraus ethische Urteile ab? Wie gehe ich damit um, dass es sehr unterschiedliche Lesarten gibt, die auch zu entgegengesetzten ethischen Beurteilungen führen können?

Welchen Rang haben die lutherischen Bekenntnisse? Sind sie der Schrift vor- oder nachgeordnet? Sind sie zeitbedingt oder zeitlos gültig? Wo ist es heute geboten, einzelne Bekenntnissätze als nicht mehr zeitgemäß abzulehnen? In ihrer christologischen Zuspitzung, die sich in der Kurzformel „solus christus“, allein Christus fassen lässt, den Ausführungen der Reformatoren zum Schriftverständnis, das „was Christum treibet“ zur Mitte der Schrift erklärt und dem Konstrukt „Gesetz und Evangelium“ liegen allemal Gefahren, die zu antijudaistischen Haltungen führen können. Im Zusammenhang meines Themas wäre zu fragen: Wo und wie sind die reformatorischen Erkenntnisse aus Sicht der Geschlechtergerechtigkeit fortzuschreiben? Da treffen dann moderne mittelalterliche Vorstellungen vom Menschsein auf (de)konstruktivistische Ideen und treten in einen, im besten Fall beide Seiten bereichernden Diskurs. Dafür braucht es Kommunikationsräume, denn diese Fragen sind grundlegend für Kirchen, die sich dem Gedanken der „ongoing Reformation“ verpflichtet wissen.

 

Hilfreich und nützlich erschien uns in der Arbeitsgruppe der in der Befreiungs-theologie bewährte Dreischritt: Sehen, Urteilen, Handeln. Im Grundsatzpapier selbst ist diese Methode durchgängig genutzt worden.

 

Im Grundlagenpapier haben wir bewusst durchgängig den Begriff „gender“ bzw, „gender-justice“ benutzt und den Begriff „sex“ vermieden, um deutlich zu machen, dass es wesentlich um kulturell geprägte und sozial zugeschriebene Geschlechterrollen und -verhältnisse geht. Das spiegelt sich auch in der deutschen Fassung, in der der englische Begriff beibehalten ist. Der Text weist den unterschiedlichen Geschlechtern ausdrücklich keine ontologischen Eigenschaften zu.

 

Die sozialen Geschlechterkategorien „Frau“ und „Mann“ sind allerdings für die Entwicklung von Geschlechtergerechtigkeit weiterhin die Schlüsselkategorie zur Bestimmung von Diskriminierung und zur Entwicklung von Maßnahmen, um sie abzubauen. Daher ist es wichtig, deutlich zu machen, dass die heterosexuelle Zweigeschlechtlichkeit nicht alles ist. Denn schon das Ausblenden der Vielfalt sexueller Identitäten stabilisiert eine dualistische Geschlechternorm und fördert damit die Diskriminierung von Menschen, die sich nicht der heterosexuellen Matrix zugehörig fühlen.

Auf eine Thematisierung von Inter- und Transsexualität sowie das Thema sexuelle Identitäten haben wir bewusst verzichtet, da dies die Annahme des Papiers infrage gestellt hätte.

 

Der Bezug auf die Menschenrechte weitet den universalen Anspruch der Forderung zusätzlich. Der Aufnahme dieses Halbsatzes gingen intensive Gespräche über das Verhältnis von Kultur und Menschenrechten voraus. Kann es für die ganze Gemeinschaft angesichts ihrer kulturellen Unterschiedlichkeit verbindliche Regeln geben? Sind die Menschenrechte universal oder zählen kulturelle Gegebenheiten so stark, dass die UN-Menschenrechte partiell  außer Kraft gesetzt werden können? Hier sind vor allem Themen wie „Beschneidung“ oder „arrangierte Ehen“ in den Blick gekommen. Dies betrifft aber auch die Einstellung zu Homosexuellen, die in einigen Mitgliedskirchen des LWB auch heute noch diskriminiert werden. Vielleicht gehört auch die Frage der Frauenordination in diesen Bereich. Aktuell ist das Verhältnis zur lettischen Kirche durch den Beschluss ihrer Synode, die Möglichkeit der Frauenordination aus der Verfassung zu streichen, massiv belastet.

Zwei letzte Punkte der Auseinandersetzung seien noch kurz erwähnt. Die „Verkündigung von Würde und Gerechtigkeit für alle Menschen“  ist besonders dort geboten, wo Menschen fast täglich Gewalt erfahren. In Indien oder Südafrika ist das Ausmaß der Gewalt, insbesondere an Frauen, wesentlich höher als bei uns. Vor dem Hintergrund war es nicht möglich, das Thema Männer als Opfer und Frauen als Täterinnen und Mittäterinnen im Papier explizit anzusprechen.

Auch fehlt im Papier eine durchgängige Männerperspektive – Männer werden lediglich oder immerhin als Partner für geschlechtergerechte Arrangements angesprochen. Die Belastungen, die traditionelle Vorstellungen, wie sich ein Mann zu verhalten hat, mit sich bringen, sind nicht entfaltet. Die Vielfalt des Männerlebens kommt nicht in den Blick und damit auch nicht die weniger privilegierten Seiten des Mannseins, die sich in westlichen Ländern zum Beispiel am Verlust von Zeitsouveränität zeigen lässt. Das Papier setzt weitgehend auf das Konzept von „Women Empowerment“.

Die nur sehr vorsichtige Öffnung zum Dialog mit Männern und zur Einbeziehung von Männerperspektiven widerspricht meinen Erfahrungen in der Gleichstellungs- und Männerarbeit. Nur wenn Männer auch für sich selbst eine Verbesserung sehen, werden sie sich aktiv einbringen, ihr Verhalten ändern. Dann werden sie geschlechtergerechte Beziehungsformen aufbauen helfen und leben.

 

Die GJP bietet aus meiner Sicht eine Chance, die Grundlagen lutherischer Theologie mit der „Brille der Geschlechtergerechtigkeit“ anzusehen und Kirche weiter zu entwickeln, damit der Leib Christi in der Welt sichtbar und erfahrbar wird. Ich erhoffe mir, dass dann die reformatorischen Erkenntnisse für die Menschen in unserer Kirche wieder stärker wahrgenommen werden. Es geht darum, wie die „Freiheit eines Christenmenschen“ heute im gleichberechtigten Miteinander von Frauen, Männern und anderen aktuell sichtbar gelebt werden kann. Geschlechtergerechtigkeit ist ein zentrales Wesensmerkmal von Kirche, eine grundlegende theologische Norm, die auch in der Personalentwicklung und Organisationsentwicklung zugrunde gelegt werden muss.

 

Die Reaktionen auf das Grundsatzpapier nach der öffentlichen Präsentation im Dezember 2014, bei der die GJP der Öffentlichkeit vorgestellt worden ist, waren sehr unterschiedlich. Aus Äthiopien kamen, wie zu erwarten war, andere Reaktionen als aus Schweden oder Kanada. Mir ist allerdings nicht bekannt, dass eine Kirche das Papier bisher grundsätzlich abgelehnt hätte.

Die GJP lädt ein zu einer gemeinsamen Lernreise, die durch die Kontextualisierung des Grundlagentextes in den Mitgliedskirchen fortgesetzt wird. Ein weiterer Baustein auf dem Weg der deutschen Mitgliedskirchen des LWB ist das von WICAS-Westeuropa herausgegebene Heft „Kirche auf dem Weg zu einer inklusiven Gemeinschaft“. In diesem sind einige der Fragen, die ich Ihnen nahe gebracht habe, weiter entfaltet und für unseren deutschen Background aufgearbeitet.

3.         Fazit: Mit Vielfalt leben lernen

Ich glaube, es ist deutlich geworden, dass Kirche ein Raum ist, in dem die unterschiedlichsten  Menschen sich zum Leib Christi zusammenschließen. Vielfalt ist ebenso wie Geschlechtergerechtigkeit ein Wesensmerkmal von Kirche. Daher kann Kirche nicht anders als ein beständiger Diskursraum bestehen. Ziel ist die inklusive, gerechte Gemeinschaft, als die Gott seine Kirche, den Leib Christi, in der Welt sichtbar machen will.

In der Praxis einer Volkskirche bedeutet dies manchmal auch, Positionen, die ich nicht akzeptiere, auszuhalten und die Menschen, die diese vertreten, als Geschwister in Christus zu sehen. So geht es mir aktuell mit den Menschen in meiner Kirche, die die Segnung homosexueller Paare aus „Gewissensgründen“ ablehnen.

 

 

Thomas Schollas, Beauftragter für Geschlechtergerechtigkeit der Evangelisch Lutherischen Kirche in Norddeutschland, Berlin, 4. November 2016

 

 

Literatur

DIE KIRCHE - Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Vision, Studie der Kommission für Glaube und Kirchen Verfassung No. 214, 2013 WCC Publications.

Ebach, Jürgen (1998): Wir sind ein Volk, Wörter und Namen in 1. Mose 11,1-9. In ders.: Weil das, was ist, nicht alles ist! Theologische Reden 4, SWI-Verl., Bochum, S. 108-130

Grundsatzpapier: Gendergerechtigkeit im LWB, Lutherischer Weltbund 2014

https://www.lutheranworld.org/sites/default/files/DTPW-WICAS_Gender_Justice-DE.pdf

Schottroff, Luise (2015): Pfingsten: von Gott in der Muttersprache reden. In: Bibel und Kirche, Jahr: 2015, Jahrgang: 70, Heft: 3, S. 148-155

Wilkens, Ulrich (1991): Das Neue Testament